Was wäre wenn – Ein nicht veröffentlichter Leserbrief

Was wäre wenn – Ein nicht veröffentlichter Leserbrief

Was wäre wenn – Ein nicht veröffentlichter Leserbrief 6240 3996 TippToppTexte von Dr. Barbara Neuber

Was wäre wenn,…

Anerkennung verdient der Artikel vom 02.02. „Der Tod scheint weniger wichtig zu sein“.

Denn genau so sieht leider die Realität aus.

U-Haft, wahrscheinlich noch mehrere Monate, wegen Alkohol und Drogen sowie einer Schlägerei mit leichter Körperverletzung. Das ist derzeit die Perspektive der Jugendlichen, die in Amberg beteiligt waren.

So sehr diese Delikte abzulehnen sind  ̶  was wäre, wenn alle deutschen oder nichtdeutschen Jugendlichen und Erwachsenen (!) mit solchen Vergehen über mehrere Monate in den Gefängnissen sitzen würden? Vermutlich würden diese überlaufen und unser bayerischer Staat müsste ordentlich investieren, um entsprechende Haftanstalten samt Personal zu finanzieren.

Medien bzw. Bürger stürzen sich leider auf alles, was mit „gewalttätigen“ Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu tun hat und vergessen dabei allzu oft, dass auch deutsche Jugendliche schlägern, Alkohol trinken, Drogen nehmen, sich gegenseitig mobben oder Schule und Ausbildung hinschmeißen. Wer einmal mit einer Schulsozialarbeiterin oder einem Schulsozialarbeiter gesprochen hat, weiß, was an unseren Berufsschulen tagtäglich passiert.

Um dies gleich vorwegzunehmen: „Jugendliche“ soll hier keine Verallgemeinerung sein. Unsere Jugend ist nicht schlecht. Genau so wenig, wie die Jugend in oder aus anderen Ländern. Der Großteil aller Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund geht zur Schule und befindet sich auf dem Weg ins Erwachsenwerden mit allen größeren und kleineren Hürden sowie Freuden und Erfolgen, die wir alle in irgendeiner Weise selbst durchlebt haben.

Aber es gibt eben auch die anderen, bei denen es nicht so läuft, wie es „sollte“ und die Verhaltensweisen wie die oben genannten an den Tag legen. Bei fast allen diesen Jugendlichen steckt dahinter jedoch nicht einfach Verantwortungslosigkeit oder Gewaltlust. Die Gründe dafür liegen nicht selten im häuslichen Umfeld. Wer von zu Hause nur Sorgen und Probleme kennt, wer zu Hause keinen Respekt und keine Anerkennung erfährt, für wen Streit und Alkohol seit der Kindheit zum Alltag gehören, für den erscheint das Leben gerade in dieser sensiblen Phase des Erwachsenwerdens einfach nur perspektivlos. Und das mündet eben leider oft in Verhaltensauffälligkeiten, Flucht in Drogen oder Aggression. Bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund kommen noch ganz andere Probleme dazu: Flucht, Traumatisierung, Gewalterfahrungen, chaotisches Ankommen, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, die neue Sprache, eine ganz andere Kultur, völlig neue Regeln und nicht zuletzt die Anforderungen des derzeitigen Beschulungssystems und die im Grunde nicht bewältigbare Aufgabe, innerhalb von zwei Jahren „ausbildungsreif“ zu sein. Und dann: ein zugesagter Ausbildungsplatz, die anfängliche Freude und Motivation  ̶  aber keine Erlaubnis. Oder: ein Ausbildungsplatz  ̶  und dann die Erkenntnis, dass man den bildungssprachlichen Anforderungen in der Regelberufsschule schlicht noch nicht gewachsen ist. Wie auch. Was folgt, sind Perspektivlosigkeit und Verzweiflung. Dabei die ständige Angst, abgeschoben zu werden. Angst und Verzweiflung, das wissen wir, führen oft zu Wut. Der ein oder andere hält das nicht aus und schlägt zu. Das ist schlimm und darf nicht akzeptiert werden.

Aber wir lösen das Problem nicht, wenn wir diese Jugendlichen wie Schwerverbrecher behandeln, „Abschiebung“ schreien, sie in U-Haft sperren und so weiter demoralisieren. Demoralisiert werden nämlich damit auch die anderen, die brav in den Schulen sitzen und die diese Ungleichbehandlung gegenüber deutschen Raufbolden beobachten. Was sollen diese Jugendlichen noch von unserem Rechtssystem halten, das wir ihnen im Sozialkundeunterricht ständig versuchen anzupreisen?

Bleibt die Hoffnung, dass sie den Glauben an die eigene Vernunft nicht verlieren und dass sie sich diejenigen als Vorbilder nehmen, die sich durchgebissen haben und die es trotz aller Steine, die ihnen in den Weg gelegt wurden, tatsächlich geschafft haben. Und es bleibt die Hoffnung, dass wir als Gesellschaft ein bisschen genauer hinschauen. Was wäre, wenn wir gleich damit anfangen würden?

 

Dr. Barbara Neuber

Altenstadt a. d. Waldnaab, 03.02.2019

Back to top