Munkatsch – Alltag in sprachlicher Vielfalt
In der Region um Munkatsch im Südwesten der heutigen Ukraine herrscht eine so außergewöhnliche Mehrsprachigkeitssituation, wie sie vergleichbar kaum zu finden ist. Die meisten noch dort lebenden Deutschstämmigen, die sich selbst als Schwoben und ihre Sprache als Schwobisch bezeichnen, sprechen mindestens drei Sprachen: ihre deutsche Varietät, Ukrainisch und/oder Russinisch[1], Ungarisch, manche zusätzlich Russisch oder Tschechisch (Neuber 2017: 31). Bis 1938 war das Schwobische für die seit über 200 Jahren dort lebenden Deutschen das Hauptkommunikationsmittel. Das erste Jahrhundert nach der Ansiedlung war die Mehrheit sogar weitgehend einsprachig geblieben, bevor von vielen das Ungarische als zusätzliche Sprache angenommen wurde[2] (Hvozdyak 1999).
Was aber ist eigentlich dieses Schwobisch? In Munkatsch selbst handelt es sich dabei um einen fränkisch-bairischen Mischdialekt, der als deutsche Ausgleichssprache aus den unterschiedlichen Mundarten der Ansiedler im 18. Jahrhundert entstanden und heute lexikalisch und strukturell stark durch die Umgebungssprachen geprägt ist. Aber auch die Deutschstämmigen in anderen Gebieten Transkarpatiens bezeichnen ihre gesprochenen deutschen Varietäten allgemein als Schwobisch und sich selbst als Schwoben, obwohl ihre Vorfahren aus ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands und Österreichs stammten (Neuber 2014).
Heute ist der Sprachgebrauch des Schwobischen bei den meisten noch dort lebenden Deutschsprechern stark eingeschränkt, bei vielen auch der Kompetenzgrad. Die meistgebrauchte Umgebungssprache ist das Ukrainische, daneben fungiert oft noch immer Ungarisch als Verständigungsmittel im Alltag (Neuber 2017). Einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der deutschsprachigen Siedlungen um Munkatsch wie in ganz Osteuropa hatten vor allem die Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Anschluss an die Sowjetunion 1945. Tausende Deutschstämmige wurden vertrieben und deportiert, die Dortgebliebenen unterdrückt (Melika 2002). Russisch und Ukrainisch wurden Amts- und Schulsprachen und zunehmend auch die meistgebrauchten Umgebungssprachen (Distler 2002). Die Schwoben verwendeten in der Öffentlichkeit ihre Muttersprache nicht mehr und viele gaben sich aus Angst als Slowaken, Ungarn oder Ukrainer aus (Neuber 2014). Zwar verbesserten sich die Verhältnisse ab 1953 allmählich, allerdings war man als Deutscher weiterhin politisch und gesellschaftlich benachteiligt. Während manche Familien gerade wegen der erfahrenen Diskriminierungen an der kollektiven schwobischen Identität festhielten und das Schwobische bewusst pflegten, passten sich andere Deutschstämmige zunehmend den Gegebenheiten an und sprachen auch zu Hause nur Russisch oder Ukrainisch. Vor allem die Jugendlichen wollten sich nicht mehr von ihren ukrainischen Altersgenossen abgrenzen, sodass in der Mitte der 1980er-Jahre nur noch sehr wenige junge Leute das Schwobische verwendeten. Hinzu kam ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts die fortschreitende Auswanderung, die bis heute nicht abreißt (Melika 2002, Neuber 2014). All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Zahl der deutschstämmigen bzw. deutschsprechenden Kinder beständig abgenommen hat und es heute in den Kindergärten und Schulen nur noch wenige Gleichaltrige gibt, die die schwobische Mundart von einem Eltern- oder Großelternteil gelernt haben. In manchen Familien wird das Schwobische mit dem Nachwuchs wahrscheinlich auch deshalb nicht mehr gesprochen, weil die Kinder ohnehin ab dem Eintritt in den Kindergarten Ukrainisch beherrschen müssen. Und so sprechen die wenigen Kinder, die die dialektale deutsche Varietät noch gelernt haben, in der Schule und im Freundeskreis auch «zwischer sich nur ukrainisch» – so Frau FK, die 1940 in Palanka, einem Stadtteil Munkatschs, geboren wurde (Neuber 2014: 341).
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Aber es finden sich doch noch schwobische Kinder und Jugendliche, für die das Deutsche weiterhin wichtig ist – ob als dialektale Varietät oder standardnahes gesprochenes Deutsch. Für sie fungiert es noch als ‘ihre’ oder zumindest eine Muttersprache unter mehreren und ist damit für sie auch eine Sprache, mit der sie sich identifizieren. Andere Gleichaltrige dagegen scheinen die Verwendung des Deutschen bewusst abzulehnen (Neuber 2017).
In einer so besonderen Mehrsprachigkeitssituation, wie sie hier vorzufinden ist, sind gerade die individuellen Faktoren für die sprachliche Identität der Kinder und Jugendlichen von großem Interesse, wenn es um die Förderung von (Minderheiten)sprachen geht.
Der Umgang mit den eigenen Sprachen
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Erkenntnispotenzial sprachbiografischer Interviews
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Der Deutschunterrich als Einflussfaktor auf die sprachliche Identität schwobischer Schüler in Munkatsch
Der Schüler NS als exemplarischer Fall
Sprachbiografischer Überblick
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Schwobisch – ein Persönlichkeitsmerkmal
Seine Erstsprache Schwobisch besitzt für NS’ sprachliche Identität einen sehr hohen Stellenwert und ist, wie er sagt, die Varietät, die er am häufigsten verwendet. Es fungiert für ihn als Kommunikationsmittel in der Familie sowie mit sehr wenigen Gleichaltrigen im Kulturhaus. Das Schwobische ist aber auch eine Sprache, die ihn deutlich von den meisten anderen Jugendlichen abhebt und dies scheint für ihn sehr positiv bewertet zu sein, wie sich im Verlauf des Gesprächs immer wieder beobachten lässt. So erwähnt NS sehr bald im Interview, dass er auch in der Schule oft Schwobisch verwende. Auf die Frage, mit wem er dies dort spreche, antwortet er lachend mit Alleine mit der Lehrerin[7], was schon hier seine positive Haltung vermittelt und implizit auch eine Art Überlegenheitsgefühl gegenüber seinen Klassenkameraden deutlich macht. Auf die abschließende Nachfrage, ob er der Einzige sei, der mit seiner Lehrerin Schwobisch spreche, folgt ein eindeutiges und bestimmtes Ja. Auch in anderen Situationen stellt NS sich aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten in einer Sonderrolle gegenüber anderen Gleichaltrigen dar. So erzählt er zum Beispiel, dass im Kulturhaus meistens entweder Ukrainisch oder in den Deutsch-als-Fremdsprache-Kursen nur Hochdeutsch gebraucht werde; jedoch würden die Erwachsenen mit ihm ausschliesslich Schwobisch sprechen. Er beansprucht damit gewissermassen eine Art Sonderbehandlung für sich, die er im Gegensatz zu den anderen Kindern und Jugendlichen erfährt, was an dieser Stelle vor allem durch die Wiederholung eines stark betonten mit mir (Z. 90, 92) verdeutlicht wird:
90 NS: So dort dort gibt es auch ein Deutschkurs, dort sprechen sie ausnahm au ausschließlich Deutsch. Und also mit mir auch Schwobisch.
91 BN: Mit dir zum mit dir Schwobisch.
92 NS: Ja, mit mir Schwobisch.
Dass er sich durch seine Schwobischkompetenzen klar im Vorteil gegenüber Gleichaltrigen sieht und seine Erstsprache sogar im Scherz als Art Geheimcode oder als witzige Reaktion auf Beleidigungen einsetzt, wird beispielsweise in folgendem Ausschnitt sehr deutlich:
272 NS: Ist eigentlich irgendwie witzig, wenn ich in der Schule also irgendwelche Bemerkungen kriege von irgendwem anderen und ich sag ihm dann etwas Schwobisch und dann, «Hä?!», und dann verschwindet er.
273 BN: Hm.
274 NS: Eigentlich ist das lustig. ((lacht leise))
NS schildert hier eine Situation, in der er eine Hänselei seitens eines Mitschülers erfährt. Schon einleitend wertet er den Ausgang dieser Situation als witzig (Z. 272) und damit als für sich selbst positiv. Zunächst positioniert er sich in der Opferrolle und überträgt die Handlungsinitiative demjenigen, von dem er geärgert wird (wenn ich […] kriege; Z. 272). Dann wird er selbst zum Agierenden (sag ihm dann etwas Schwobisch; Z. 272) und die darauffolgende Reaktion seines Mitschülers stellt er durch eine kurze Redewiedergabe dar: ein stark betontes und stimmlich abgesetztes Hä?! (Z. 272). Dadurch will er die Verständnislosigkeit und Unterlegenheit, die er seinem Schulkameraden hier unterstellt, signalisieren. Das Verschwinden des Mitschülers als weitere Reaktion gilt dann sozusagen als sein ‘Sieg’. Abgeschlossen wird die Sequenz durch die metakommunikative Rahmung und Bewertung lustig (Z. 274) sowie ein Lachen, wodurch die bereits anfangs geäusserte Bewertung solcher Vorkommnisse nochmals bestätigt wird.
Schon hier zeigt sich, dass NS das Schwobische bewusst zur Aufwertung seines Selbstbildes nutzt. Dies gelingt ihm deshalb, weil er nicht nur im Kulturhaus, sondern auch im schulischen Kontext immer wieder positive Verstärkungen aufgrund seiner Sprachkenntnisse erfährt. Das betrifft aber nicht nur seine Erstsprache Schwobisch, sondern vor allem auch das Standarddeutsche, das er in der Schule lernt.
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Standard und Dialekt als gegenseitige Stützfaktoren
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Ausblick
Die institutionelle Förderung von Deutsch als Fremdsprache hat zwar in gewisser Hinsicht eine neue sprachliche Konkurrenz zur dialektalen Varietät eröffnet, jedoch kann der Standard als Überdachungssprache durchaus zu einer Stützung des Schwobischen führen, sofern Kinder und Jugendliche in beiden Varietäten positive Verstärkungen erfahren. Gerade im Schulunterricht sollte dieses Potenzial viel bewusster genutzt werden. Beispielsweise könnte das Schwobische als Vergleichsbasis für den Standard einbezogen werden oder es könnten ‘Expertenaufgaben’ zum Schwobischen im Deutschunterricht für deutschstämmige Kinder angeboten werden. Nur wenn die dialektale Varietät wieder eine Wertigkeit erfährt, die von den Schülern wahrgenommen wird, und wenn sie dies auch in Bezug zur ‘Prestigevarietät Hochdeutsch’ setzen können, kann eine Förderung des Deutschen als Minderheitensprache in Transkarpatien gelingen.
[1] Das Russinische bezeichnet verschiedene Ausprägungen von Misch- bzw. Übergangsdialekten westlich der Karpaten mit ostslawischen und je nach Umgebung polnischen oder südslawischen Elementen. Bis zur konsequenten Ukrainisierung Transkarpatiens und der Einführung des Standardukrainischen war das Russinische neben dem Ungarischen die Alltagssprache der ansässigen Bevölkerung (Hösch et al. 2004, Okuka/Krenn 2002).
[2] Transkarpatien gehörte vom 10. bis zum 18. Jahrhundert zum Königreich Ungarn, anschliessend bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Monarchie (Hvozdyak 2008).
[3] Mit dem Terminus Hochdeutsch werden im vorliegenden Beitrag nicht die aus der 2. Lautverschiebung hervorgegangenen hochdeutschen Dialekte bezeichnet, sondern die standarddeutschen Varietäten, wie es – im Gegensatz zur Abgrenzung dieser Termini im fachlichen Bereich – der weitgehend übliche Sprachgebrauch ist. Da auch die deutschstämmigen Bewohner in Munkatsch mit Hochdeutsch im Allgemeinen das Standarddeutsche bezeichnen, wurde in den Interviews bewusst dieses Begriffsverständnis beibehalten.
[4] Die folgenden Interviewauszüge und Ergebnisse stammen weitgehend aus Neuber 2017. Für weitere Gesprächsauszüge und eine ausführlichere Auswertung siehe ebd.
[5] Aus Gründen des Datenschutzes werden anstelle der Namen der befragten Personen nur Kürzel angeführt.
[6] Die Darstellung der sprachlichen Situation sowie die Auswertung des Interviews erfolgen im Präsens. Die Aussagen beziehen sich auf die Zeit der Durchführung der Interviews.
[7] Die aufgeführten Interviewauszüge zeigen die bereits ins Standarddeutsche übertragenen Transkriptstellen. Die Übertragung erfolgte Wort für Wort, ohne grammatische Korrekturen und unter Auslassung von Verzögerungslauten. Auf die Darstellung phonologischer sowie prosodischer Besonderheiten wird in diesem Fall verzichtet. Im Fliesstext werden einzelne Passagen nur dann wie im Originaltranskript wiedergegeben, wenn es für die Erklärung der Auswertung von Bedeutung ist.